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Berner Zeitung: «Ich wusste nie, ob ich verflucht oder geküsst würde»

posted in: Diverse
Von Andreas Saurer. Aktualisiert am 15.10.2014 

 

Ana Blandiana war 1989 eine der Symbolfiguren des Umbruchs in Rumänien. Unter Diktator Ceaușescu stand sie unter Hausarrest und hatte Publikationsverbot. Bis heute lässt sich der Freigeist von niemandem vereinnahmen.

1/4In Rumänien ist sie eine moralische Instanz: Die Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Ana Blandiana.
Bild: Beat Mathys

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Schriftstellerin, Dissidentin, Bürgerrechtlerin

Zwar hat es die heute 72-Jährige am 27. Dezember 1989 abgelehnt, Vizepräsidentin zu werden. Ihre Unabhängigkeit zu bewahren, war ihr auch zwei Tage nach der Hinrichtung von Diktator Nicolae Ceaușescu wichtiger. In ihrer Heimat aber kennt jeder die populäre Schriftstellerin und streitbare Bürgerrechtlerin. Sie ist durch ihre Standhaftigkeit zur moralischen Instanz geworden. Nach 1989 wurde sie beim Aufbau der Zivilgesellschaft zu einer Schlüsselfigur. 

Und fast jeder in Rumänien kennt Arpagic, jenen von ihr 1988 in einem Kindergedicht erfundenen Kater, in dem sich Diktator Ceaușescu wiedererkannte und der ihr Publikationsverbot und andere Repressalien einbrachte. 
Ana Blandiana hat bisher über 30 Bücher veröffentlicht, ihre Romane, Erzählungen und Gedichte sind in 24 Sprachen übersetzt worden. Bereits 1982 wurde sie in Wien mit dem Herder-Preis ausgezeichnet. 

Im Gespräch erwähnt Blandiana auch düsterste Dinge mit einem entwaffnenden Lächeln. Sie kennt die Repression im Realsozialismus und die feineren Spielarten der Manipulation im Kapitalismus. Inzwischen gehört Rumänien seit 10 Jahren der Nato an und ist 2007 EU-Mitglied geworden. 

Ihre luzide Analyse der aktuellen politischen Lage in Europa und in Rumänien, wo Anfang November Präsidentschaftswahlen stattfinden, unterbricht Blandiana selbst immer wieder temperamentvoll durch Anekdoten aus ihrem Leben und durch Exkurse, die weit hinein in die Geschichte und in die Seele ihres Volkes führen. 
Im Rahmen der Rumänischen Kulturtage in Bern, die das Rumänische Kulturinstitut Berlin 25 nach der Wende organisiert hatte, war Blandiana kürzlich in der Schweiz. Geboten wurde in Bern dabei mit elf Veranstaltungen an fünf Tagen ein neugierig machender Querschnitt durch Film, Musik, Folklore und Literatur. asr

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Es ist wieder Krieg in Europa, in Ihrem Nachbarland Ukraine – 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und 25 Jahre nach der Wende. Was läuft da falsch in Europa?
Ana Blandiana: Europas grösste Schuld sehe ich im zu grossen Vertrauen, in der übertriebenen Höflichkeit gegenüber Russland. Sie grenzt an Schmeichelei. Ein berühmtes Zitat von Lenin heisst: «Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.»

Was bedeutet das mit Blick auf die Ukraine?
Frankreich will Schiffe verkaufen und Deutschland braucht Gas, Russland ist ein immenser Marktplatz geworden. Europa hat den russischen Präsidenten immer mehr unterstützt, als es dieser verdient hätte. Wladimir Putin hat seine Nachbarländer – ganz anders als Deutschland und auch anders als seine Vorgänger Jelzin oder Gorbatschow – nie um Verzeihung gebeten oder die Verbrechen der Vergangenheit wenigstens als Verbrechen anerkannt. Denken wir doch an die Zeit nach der Machtergreifung Hitlers. Die demokratischen Länder waren gegenüber NS-Deutschland viel zu nachgiebig. Es geht nicht, dass man nichts lernt aus der Geschichte.

Was wollen die Russen, was will Putin?
Schon zu Sowjetzeiten hätte ich nie pauschal gesagt, dass «die Russen» schlecht sind. Sie waren vielmehr das erste Opfer des sowjetischen Imperialismus. Aber Putin akzeptiert nicht, dass die Sowjetunion Vergangenheit ist, er will das Imperium wiederherstellen. Das ist alles. Dabei geht er mit exakt jener Schamlosigkeit vor, die auch Stalin eigen war. Wenn ich sehe, wie Putin lügt, wie zynisch er antwortet, erinnere ich mich an Rumänien nach 1944, als der Eiserne Vorhang errichtet wurde. Alles lief genau nach diesem Muster ab.

Sie hatten unter Diktator Ceau?escu wiederholt Publikationsverbot. Vor der Wende standen Sie in Bukarest unter Hausarrest, die Securitate vor dem Haus, kein Telefon, keine Korrespondenz. Dachten Sie nie an Emigration?
Ich wusste immer, dass man Rumänien nicht einfach Ceau?escu überlassen kann. In jener düsteren Zeit legten Menschen bei unserem Hauseingang Blumen hin, solche stillen Zeichen der Wertschätzung haben mir Mut gemacht. Vor 1989 gab es keinerlei Möglichkeiten, offen Solidarität zu zeigen.

Wie war die Zeit nach Ceau?escus Sturz und dessen Hinrichtung?
Es gab laufend Strassenkundgebungen mit Hunderttausenden von Menschen. Durch einen simplen Hinweis in der Zeitung brachten wir Massen auf Plätze und Strassen. Wenn ich heute die Bilder von diesen Menschenmengen anschaue, scheint es mir unglaublich, ich hatte nicht nur teilgenommen, sondern wir hatten diese Meetings organisiert – zu oft auch ganz theoretischen Themen wie «Reform und Wahrheit». 1990 war für mich das absolut wahnsinnigste Jahr, viel schwerer als die Jahre davor. Ich dachte damals, wenn ich nichts tue, bin auch ich mitschuldig für das, was war.

Isoliert in der eigenen Wohnung und dann plötzlich im Rampenlicht: Was hat der plötzliche Rollenwechsel mit Ihnen gemacht?
Mein Leben geriet total aus den Fugen. Die Stimmung damals in Rumänien unter dem postkommunistischen Präsidenten Ion Iliescu war über Jahre derart aufgeheizt, beinahe hysterisch. Wenn ich einem Unbekannten auf der Strasse begegnete, wusste ich nie, ob er mich verfluchen oder küssen würde. Die normale Reaktion einer Frau darauf wären zwei Ohrfeigen. Doch mein Mann Romulus Rusan beruhigte mich: «Sie küssen dich nicht als Frau, sondern als Ikone.»

In der Diktatur und in der Einsamkeit hat Sie auch das Schreiben gerettet.
Ich habe über Jahre mit der Zensur gekämpft. Doch mehr Angst als vor der realen hatte ich immer vor der inneren Zensur. Das ist ein mentaler Mechanismus, der viele Schriftsteller – und nicht nur sie – zerstört hat. Irgendwann habe ich geschrieben und weitergeschrieben, ohne jeden Gedanken daran, ob der Text, ob das Buch zu meinen Lebzeiten je wird erscheinen können.

Schriftstellerin, Dissidentin, Bürgerrechtlerin. Als Präsidentin der Bürgerallianz waren Sie eine charismatische Figur der Opposition. Wie sehen Sie Ihre aktuelle Rolle?
Ich bin stolz darauf, heute wieder einfach Schriftstellerin zu sein. Ich habe nie andere Aufgaben gesucht. Meine Pflicht war und ist es, zu schreiben, was ich glaube. Das hat jenen an der Macht nicht gefallen. In den 1990er-Jahren bin ich durch die Ereignisse und Umstände zur öffentlichen Figur geworden, das hat mich geprägt, zum Schreiben blieb da keine Zeit mehr.

Mit welchem Gefühl schauen Sie heute auf jene hektischen Jahre zurück?
Ich würde alles wieder tun, aber die Opfer, die ich gebracht habe, zeitigten bei weitem nicht die Folgen, die ich mir fürs Land erhofft hatte. Lech Wa?esa zog kürzlich an einem Anlass ein ernüchtertes Fazit seines Kampfes für die Freiheit: «Das Böse profitiert mehr von der Freiheit als das Gute.» So ist es.

1996 hat die von Ihnen gegründete und geführte Bürgerallianz die Wahlen gewonnen, Professor Emil Constantinescu löste Iliescu als Präsident ab. Doch 4 Jahre später kehrte der Postkommunist an die Macht zurück. Was war da schiefgelaufen?
In jener Zeit ist die Indifferenz enorm gewachsen. Daran sind wir, daran ist auch die Bürgerallianz mitschuldig. Und Emil Constantinescu. Auf ihm ruhten alle Hoffnungen, ihm vertrauten die Menschen. Es hatte nicht nur eine politische, sondern eine fast religiöse Dimension. Es ging um Gut und Böse. Kurz vor der Wahl war im Alter von 81 Jahren der charismatische Oppositionsführer Corneliu Coposu gestorben. Nur die gigantische Welle der Betroffenheit darüber in der Gesellschaft brachte uns den Sieg. Constantinescu hat die Menschen und ihre Anliegen nicht verraten, aber er war schwach, zu schwach, um sich gegen die Seilschaften von Parlament und Verwaltung durchzusetzen. Er war erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange. Die Zerstörung der Illusionen war da vorprogrammiert.

Wie zeigte sich seine Schwäche?
Ich erfuhr etwa von einem empörten Augenzeugen, dass die persönliche Garde des Präsidenten, die früher Iliescu beschützte, Schiessübungen auf das Porträtbild von Constantinescu machte. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er nur: «Was kann ich machen, so ist das Land.»

Nach 89 gab es in der Politik ein paar alte bürgerliche Ikonen der Unbestechlichkeit wie Corneliu Coposu. Heute sehen die Menschen Politiker oft als Inbegriff der Korruption. Warum ist die Elitebildung so schwer?
Es gibt keine Vorbilder mehr in der Politik. Ich sehe da eigentlich nur Monica Macovei. Das ist der einzige Mensch in der rumänischen Politik, in dem ich mich wiedererkenne. Doch im politischen Leben spielt sie eine periphere Rolle.

Sie kandidiert am 2.November immerhin für die Präsidentschaft.
Monica Macovei wäre perfekt dafür, doch sie wird kaum eine Chance haben. Meine Stimme aber hat sie.

Und nicht Regierungschef Victor Ponta, der als Favorit gilt? 
Gott behüte. Im rechten Parteienspektrum hat Klaus Johannis, der Bürgermeister von Sibiu, die besten Chancen. Wenn man Ponta verhindern will, müssen sich die anderen Parteien bei allen Vorbehalten wohl auf ihn verständigen. Der Siebenbürger Sachse gehört heute der Liberalen Partei an, die sich durch viele fragwürdige Kompromisse diskreditiert hat. Aber als Person könnte Johannis ein ausgeglichener und ausgleichender Präsident sein.

Wenn es der 42-jährige Ponta aber doch schafft?
Das Problem ist überall in der Welt das gleiche: Man soll nicht einer einzigen Person oder einer einzigen Partei zu viel Macht geben, sonst erliegen diese der Versuchung. Das ist die Gefahr in Rumänien mit den Postkommunisten von Regierungschef Ponta. Er als Präsident und eine absolute PSD-Mehrheit im Parlament, das bedeutet Diktatur. Es bedeutet die Zerstörung des Rechtsstaates. Gerade im Rechtsbereich hat man in den letzten Jahren einige Fortschritte gemacht, dank der früheren Justizministerin Macovei und dank dem abtretenden Präsidenten Traian B?sescu. Und das gefällt vielen Politikern überhaupt nicht.

Seit 1989 und seit den Iliescu-Jahren hat sich dennoch einiges getan: Rumänien gehört seit 2004 der Nato an und ist 2007 der Europäischen Union beigetreten. 
Unter Iliescu gab es Verbrechen, für die er verurteilt werden müsste, das ist klar. Jetzt sprechen wir nicht mehr von Verbrechen, sondern von Korruption und neuen Formen der Manipulation. Doch die politische Klasse ist erbärmlich, auch wenn gleichzeitig das Mass an Gewalt gesunken ist. Zu Iliescus Zeiten gab es im Parlament immerhin noch etwa zehn frühere politische Häftlinge, Menschen, die ich schätzte. Heute gibt es im Parlament keinen Einzigen, dem Respekt gebührt.

Keinen Einzigen?
Keinen Einzigen.

Das Memorial in der Provinzstadt Sighet, im Stalinismus einst ein düsterer Kerker, wurde durch Sie und Ihren Mann zum wichtigen Ort der Erinnerung in Europa. Sie führen dort eine Sommerakademie mit Wissenschaftern und Studenten durch. So gesehen sind Sie eine öffentliche Figur geblieben.
Die Gedenkstätte ist aus meiner Frustration über die Politik entstanden. Mir wurde klar, dass man bei der Erziehung beginnen muss, um die Dinge wirklich zu ändern. Wir müssen zuerst einmal wissen, wer wir sind. Das Memorial weist deshalb nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart.

Wie macht man das konkret?
Zum Beispiel sagt man immer «Maisbrei explodiert nicht», um den angeblichen rumänischen Fatalismus zu illustrieren. Die Polen haben Solidarno??, die Ungarn 1956 – und wir den Maisbrei. Dabei kam es im Stalinismus bis 1962 in weit über hundert Dörfern im ganzen Land zu Bauernaufständen gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft, die durch Securitate-Einheiten brutal niedergeschlagen wurden. Es gab also durchaus einen realen Widerstand. Und wir, die wir das schlicht nicht wussten, sagten: «Mamaliga explodiert nicht.» Nur mit einer Gedenkstätte wie dem Memorial in Sighet kann man heute die Spätfolgen des Kommunismus erklären und zu verstehen lernen.

Welche Bedeutung hat das Memorial für Europa?
Als ich unser Projekt beim Europarat vorstellte, erklärte ich es so: Wir wollen ein vereinigtes Europa, aber wie können wir vereinigt sein, wenn sich immer alles nur um Wirtschaft und Politik dreht? Wir müssen auch die Obsessionen vereinigen. Unsere sind fundamental anders als eure, ihr kennt uns überhaupt nicht. Unser Leid ist unsere Mitgift. Leid und Schmerz sind auch Teil des Kulturgutes eines Volkes. Man muss den anderen zuerst verstehen, bevor man sich mit ihm vereinigt.

Können Sie da die Reserven der Schweiz gegenüber der EU verstehen? 
Ich kenne von meinen gelegentlichen Aufenthalten als Autorin nur die idyllische Seite der Schweiz. Manchmal scheint mir die Art riskant zu sein, wie sich die Schweiz darauf versteift, sie selber bleiben zu wollen. Die Menschen sind bescheiden, sie nehmen nur, was sie brauchen, so wie die Norweger. Dort war ich einmal mit Freunden beim Fischen. Sie fingen vier Fische, zwei assen wir, zwei warfen sie zurück ins Wasser. So etwas versteht ein Rumäne nie.

 

http://www.bernerzeitung.ch/ausland/europa/Ich-wusste-nie-ob-ich-verflucht-oder-gekuesst-wuerde/story/29829043