Die achte Tagung zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Rumänien und im Ostblock fand vom 7. bis 10. Juli in Sighet (Maramuresch) zum Thema „1954-1960: Wirkungen und Auswirkungen des Stalinismus“ statt. Das ehemalige Gefängnis wurde zu einem Museum und einer Forschungsstätte umgebaut, Historiker, Wissenschaftler, Dichter, Journalisten, ehemalige politische Gefangene, Lehrer, Schüler sowie einheimische Besucher treffen sich hier jährlich zu einer Tagung. An einem Ort wie diesem, wo der Terror der kommunistischen Diktatur seine Spuren hinterlassen habe, gelte es diese Botschaft des Nichtvergessen- und Nichtvergebenwollens besonders zu berücksichtigen, sagte Laurentiu Ulici, Vorsitzender des Rumänischen Schriftstellerverbandes. Hans Bergel sprach er unter viel Beifall und Anteilnahme von dem Schicksal der fünf siebenbürgisch-sächsischen Schriftsteller, die 1959 verhaftet und verurteilt worden waren. Bergel wurde zum Ehrenmitglied der Stiftung „Academia Civica“ ernannt.
Von Katharina K i l z e r , Frankfurt
Das “Memorial Sighet” – ein ehemaliges Gefängnis, das zum Museum umgebaut wurde – ist der Ort, wo sich seit sieben Jahren Historiker, Wissenschaftler, Dichter, Journalisten, ehemalige politische Gefangene, Lehrer, Schüler sowie einheimische Besucher zu einer Tagung über Themen zur kommunistischen Vergangenheit Rumäniens und Osteuropas treffen. Das Thema dieses Jahres lautete: „1954-1960: Wirkungen und Auswirkungen des Stalinismus“. Zur Debatte standen der XX. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der Bericht Chruschtschows zu den Verbrechen Stalins, die Auswirkungen der ungarischen Revolution von 1956 auf Rumänien und die anderen osteuropäischen Länder, der antisowjetische Stalinismus, die Beziehungen zu Jugoslawien, die innerparteilichen Konflikte der Rumänischen Kommunistischen Partei, die Bauernaufstände von 1958-1960, der Rückzug der sowjetischen Truppen aus dem Land, die neue Verhaftungswelle der Jahre 1958-60 und die politischen Prozesse gegen Intellektuelle, der Schriftstellerprozess von 1959 in Kronstadt, die Studentenrevolte von 1956 in Temeswar und Bukarest und andere.
Die Mauern des ehemaligen Gefängnisses aus der Habsburgerzeit (erbaut 1896) haben nichts von ihrer kühlen Starre verloren, hinter der sich unzählige menschliche Schicksale abspielten, Geschichten von Leid und Not, Elend und Trauer. Durch die Gitterfenster der Zellen dringen nur kleine Lichtstreifen hinein. In den sogenannten „dunklen Zellen“ gibt es gar keine Fenster, dort wurden die Häftlinge an den Steinboden angekettet. Ohne Essen, Licht und manchmal nackt mussten sie tagelang ausharren. In der großen Gemeinschaftszelle der ersten Etage des Gefängnisses stehen die Eisenbetten, auf denen die ersten Gefangenen 1948 die Tage ihrer Haft verbringen mussten. Die „Gruppe Visovean“ (Lotul Visovean) aus der Maramuresch, eine Gruppe von zehn Studenten und Schüler, die gegen die Kommunisten protestiert hatten, wurden verhaftet und ins Gefängnis für politische Häftlinge nach Sighet gebracht.
Ion Visovean, heute achtzig Jahre alt, hat inzwischen schon oft das Gebäude der ehemaligen Haftanstalt besucht, doch jedesmal erinnert er sich mit Grauen, wie er als junger Student dort eingesperrt war: „Bis der Urin uns bis zu den Knöcheln stand, mussten wir zehn hier in der Zelle ausharren“, erzählt er den Besuchern. Fast alle seiner Mitgefangenen leben noch, aber nicht alle wollen an die damaligen Jahre erinnert werden. Als Vorsitzender des Vereins ehemaliger Häftlinge weiß er, wie schwierig es auch heute im demokratischen Rumänien ist, die Rechte der ehemaligen politischen Häftlinge durchzusetzen. Nur etwa 13 Mark pro Entschädigungsjahr wurde den Häftlingen nach jahrelanger Debatte zugestanden, ihre politische Rehabilitierung erfolgte jedoch bis heute nicht. Ein ehemaliger Häftling sagte in der Diskussion im Konferenzsaal des Gefängnisses: „Warum sollten wir die Politiker um unsere Rehabilitierung bitten. Wir wurden unschuldig eingesperrt. Sollen wir um die Anerkennung unserer Unschuld nun im Rechtsstaat wieder kämpfen? Wir können mit diesem Makel weiter leben wie bisher.“ Bitterkeit und Resignation breitet sich unter den ehemaligen politischen Häftlingen aus, die seit zehn Jahren um ihre Rechte kämpfen.
1993, fünfundvierzig Jahre nach der Installierung des ersten politischen Gefängnisses in Sighet, hatte die bekannte rumänische Schriftstellerin Ana Blandiana ein Schreiben an den Europarat in Straßburg gerichtet und um Unterstützung für ihr Projekt gebeten: die Umwandlung des ersten politischen Gefängnisses in Sighet in ein Museum und Forschungszentrum für die Geschichte des Kommunismus in Rumänien und Osteuropa. Kurze Zeit später erhielt Frau Blandiana, die als Vorsitzende der Bürgerakademie (Academia Civicä) in Bukarest für das Projekt geworben hatte, grünes Licht. Die finanzielle Unterstützung kam nicht aus Straßburg, sondern durch Spenden aus dem Ausland, hauptsächlich von ehemaligen rumänischen Bürgern und deutschen Stiftungen wie der „Hanns Seidel“-, „Konrad-Adenauer“- und „Friedrich-Ebert“-Stiftung. So konnte der Umbau der Haftanstalt in Nordsiebenbürgen in ein Museum und Forschungszentrum verwirklicht werden. Seither wurden beachtliche Projekte realisiert: Ausstattung der Gefängniszellen mit Anschauungsmaterial aus rumänischen Museen und dem Privatbesitz ehemaliger Häftlinge, Ausbau des Innenhofes mit einer Gedenkkrypta, Renovierung der Außenwände und der historischen Wachtürme des Gefängnisses, Aufbau einer Bibliothek und Einrichtung der Konferenzräume für Veranstaltungen, ein permanenter Verkaufsstand mit aktuellen Veröffentlichungen, ein Archiv mit Aufzeichnungen und Erlebnisberichten ehemaliger politischer Häftlinge, Dauerausstellungen über bekannte politische Persönlichkeiten, die im Gefängnis Sighet gestorben sind oder dort eingekerkert waren: Iuliu Maniu, Gheorghe Bratianu, Cornel Coposu. 1996 wurde das Gefängnis vom Parlament als historisches Denkmal zusammen mit dem Eminescu-Haus in Ipotesti und dem Skulpturengarten von Brancusi in Targu Jiu offiziell anerkannt und wird seither mit Mitteln des Staatsbudgets gefördert.
Die diesjährige Versammlung fand am ersten Juliwochenende statt. Mehr als 200 Teilnehmer und Besucher kamen zur Eröffnung der Tagung. Ana Blandiana unterstrich in ihrer Rede die Bedeutung des Memorials für die Maramuresch, für Sighet und für Rumänien. Die ehemalige Dissidentin Doina Cornea rief in einer kurzen Ansprache das rumänische Volk auf, nicht mehr zu lamentieren, sondern seine errungene Freiheit zu verteidigen und das bereits Erreichte anzuerkennen. „Der Preis unserer Freiheit war hoch, aber Freisein ist überall in der Welt schwer“, sagte sie.
Dank der Initiative und Unterstützung politischer Kräfte wie des Ministers für Öffentliche Arbeiten und Landesplanung Nicolae Noica, des Präfekten von Baia Mare, Mihai Bärlea und der Bürgermeisterin der Stadt Sighet, Eugenia Hogia, sowie durch den Beitrag ehemaliger politischer Häftlinge wie Aurel Visovean aus Sighet und des Senators Ticu Dumitrescu war das Projekt Sighet erst möglich geworden. Noica sagte in seiner Ansprache, dass Rumänien seine Vergangenheit nicht vergessen dürfe, da es das stärkste aller sozialen „Erdbeben“ erlebt habe: den Kommunismus. Diese Erfahrung werde und solle dem Volk nutzen, um eine Wiederholung der damaligen Geschehnisse zu verhindern. Die Rumänen hätten durch die Revolution von 1989 bewiesen, dass sie nicht feige seien, kein „Pflanzenvolk“, wie Ana Blandiana sie in einem ihrer Gedichte genannt hatte, sondern durchaus fähig, politische Veränderungen zu bewirken.
Laurentiu Ulici, Vorsitzender des Rumänischen Schriftstellerverbandes, und der Botschafter Rumäniens in Deutschland, Tudor Dunca, beide aus Sighet stammend, meldeten sich ebenfalls zu Wort. Ulici erinnerte in seiner kurzen Rede an die Worte der Kirche, die zum „Vergessen und Vergeben“ aufruft. Für den Kommunismus dürften diese Worte jedoch nicht gelten: Nicht vergessen und auch nicht vergeben, weil man auch nicht vergeben kann, wenn man etwas vergisst. An einem Ort wie diesem, wo der Terror der kommunistischen Diktatur seine Spuren hinterlassen habe, gelte es diese Botschaft des Nichtvergessen- und Nichtvergebenwollens besonders zu berücksichtigen, sagte Ulici. Der Botschafter betonte, dass er sich seinem Geburtsort, der Stadt Sighet, tief verbunden fühle und stolz sei, dass sie nicht nur als Geburtsort des bekannten Nobelpreisträgers Ellie Wiesel in die Geschichte eingehen werde, sondern auch als Ort des Gedenkens und der Aufklärung an Bedeutung gewinne. Romulus Rusan, der stellvertretende Vorsitzende der Bürgerakademie und Mitorganisator der Sighet-Veranstaltungen unterstrich, dass diese Haftanstalt als Ort der Erinnerung für die „Toten und Lebenden“ gedacht sei.
Die Referate, die sich an die Eröffnungsreden anschlossen, wurden von Historikern, Wissenschaftlern, Soziologen, Studenten der Geschichte, ehemaligen Häftlingen oder ihren Nachfahren vorgetragen. Die Referenten aus Paris, Sofia, London, Budapest, Warschau, München, Huntington, Bukarest, Jassy, Klausenburg, Sighet, Pitesti, der Ukraine und aus Moldova ließen die Vergangenheit wiederaufstehen. Mircea Carp, ehemals Journalist beim Sender “Freies Europa“ referierte über die westlichen Reaktionen zu der Chruschtschow-Erklärung. Die Historikerin Tatiana Pokivailova aus Moskau trug in einem anderen Saal ihre Analyse des XX. Kongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vor. Antonina Kuzmanova aus Sofia sprach über die Veränderungen in Bulgarien nach dem Tod Stalins 1954. Senator Ticu Dumitrescu, Initiator des Gesetzes für die Freigabe der Securitate-Akten, sprach über seine Verurteilung und den politischen Prozess, der seinem Zwangsdomizil 1954 gefolgt war. Über die zensurierte Presse der rumänische Armee jener Zeit referierte Ilie Manole aus Bukarest. Der Historiker und jetzige Vorsitzende der „Gauck-Kommission“ in Rumänien, Gheorghe Onisoru, sprach über die Umstände des politischen Prozesses 1954 gegen Vasile Lupu, der aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und des Verrats bezichtigt worden war. Die junge Historikerin Adriana Dogaru aus Bukarest schilderte die Situation der Schriftsteller nach der Machtübernahme der Kommunisten; sie sprach über Mihai Beniuc, der als Mitläufer des Systems seine Kollegen aufrief, dem Sozialismus zu dienen.
Über einen besonderen Fall der politischen Prozesse der fünfziger Jahre referierte Hans Bergel, Schriftsteller und Publizist aus Gröbenzell bei München. In seinem Referat zum Thema „Der Schriftstellerprozess von 1959 in Rumänien und seine bis heute andauernden Perversitäten“ sprach er unter viel Beifall und Anteilnahme von dem Schicksal der fünf siebenbürgisch-sächsischen Schriftsteller, die 1959 verhaftet und verurteilt worden waren. Er beklagte auch die bis heute andauernden Perversitäten des damals inszenierten Prozesses: mangelndes Interesse der deutschen Medien und ein damit verbundenes Verkennen der Wahrheit, sozusagen der wahren Umstände, die zu diesem Prozess geführt hätten. Bergel wurde mit der Ernennung zum Ehrenmitglied der Bürgerakademie ausgezeichnet. Deren Vorsitzende Anna Blandiana würdigte in einer Feierstunde Bergels “außerordentliche Unterstützung der Academia Civica im Bemühen um die Schaffung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins“ der Rumänen und überreichte ihm eine Urkunde.
Die politischen Zionisten-Prozesse in Rumänien waren das Thema des Referates von Theodor Wexler. Auch Einzelschicksale, wie zum Beispiel Frauen im Gefängnis, die Opfer des Jahres 1954 in der Haftanstalt Sighet, Priester im Gefängnis sowie die Rolle des Glaubens und die Methoden der psychologischen und sozialen Vernichtung der Opfer waren weitere Themen der Referate. Über die Studentenrevolte in Temeswar als Auswirkungen der ungarischen Revolution von 1956 berichteten der Zeitzeuge Teodor Stanca sowie Stela und Romulus Tasca und Ioan Munteanu, die als Studenten damals dabei waren. Die Vorträge werden wie jedes Jahr in der Buchreihe „Analele Sighet“ veröffentlicht, die von Romulus Rusan herausgegeben wird.
Im Rahmen des Symposions wurde auch die Ausstellung „Cornel Coposu“ eröffnet, die in Zusammenarbeit mit dem Museum für Geschichte in Bukarest aufgebaut worden war. Cornel Coposu, prominentes Mitglied der Bauernpartei Rumäniens (PNTCD), die er nach der Wende wiedergegründet hatte, verbrachte einige Jahre seiner Haftzeit in Sighet.
Parallel zum Symposion wurde vom 4. bis 15. Juli in Sighet eine „Sommerakademie für Schüler“ veranstaltet, an der etwa 120 Schüler aus Rumänien, Moldova und der Ukraine Vorträge von Historikern hörten. Zum Abschluss wurde die beste Arbeit im Rahmen eines Wettbewerbs mit dem Titel: „Das Rumänien, in dem ich leben möchte“ ausgezeichnet. Die Veranstaltung wurde mit Unterstützung der „Konrad-Adenauer-Stiftung“ finanziert.