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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Menschen ohne Gedächtnis

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Jahrzehntelang hatte in Rumänien jeder Lebenslauf zwei Abschnitte: einen vor und einen nach dem 23. August 1944, dem Tag des Einmarsches der Roten Armee. Nun gut, während der letzten Jahre hat sich das geändert: Das Datum, das jede unserer Biographien teilt, ist jetzt der 22. Dezember 1989, der Tag der Flucht Ceausescus.

Vor dem 22. Dezember 1989 war ich eine Schriftstellerin mit 24 veröffentlichten Büchern, zweien in der Schublade, drei Schreibverboten und einer einzigen Obsession: zu schreiben, was ich dachte, und zu veröffentlichen, was ich schrieb. Schreiben war einfach, veröffentlichen viel schwieriger. Verboten zu sein bedeutete, dass dein Name nie wieder in den Medien auftauchte, auf keinem Buchdeckel mehr stand und auch nicht zitiert wurde.
Das erste Mal wurde ich einfach nur verboten, weil mein Vater im Gefängnis saß. Die beiden anderen Male war es wegen meiner Gedichte. Das erste Verbot dauerte vier Jahre, das dritte wäre vermutlich lebenslänglich gewesen, wäre es nicht durch die Ereignisse vom 22. Dezember 1989 annulliert worden. Ich war also Autorin von 24 Büchern, aber für das rumänische Leserpublikum war ich nicht nur das, sondern vor allem die Autorin meines Schweigens, denn zwischen den Veröffentlichungen gab es immer wieder Verbote.

Statt als Schriftstellerin wurde ich zuerst als verbotene Schriftstellerin bekannt. Während des dritten Verbots waren meine Bücher auch aus den Bibliotheken verbannt. Das Verbot galt somit nicht nur für Gegenwart und Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit. In einer Gesellschaft, in der nur die Lüge keine Mangelware war und die einzige Wirklichkeit der Unterdrückungsapparat, wurde auch die harmloseste Kritik politisch, da sie Ausdruck von Freiheit war.

Diese Verbote haben mich als Schriftstellerin, die sich seit Jahrzehnten darauf versteift hatte, die Wahrheit zu sagen, in ein politisches Symbol verwandelt. Die Postkommunisten haben nach dem 22. Dezember 1989 versucht, dieses Symbol zu manipulieren, indem sie mir vorschlugen, Vizepräsidentin der neugegründeten Partei “Front der Nationalen Rettung” zu werden. Als ich das jedoch instinktiv ablehnte, noch bevor mir die wahren Gründe bewusst wurden, wurde ich für die neuen Machthaber zu einer Art “verlorenem Schaf”. Paradoxerweise hat die Freiheit des Wortes auch dazu geführt, dass das Interesse am Wort schwand. Tatsächlich war Freisein viel schwieriger als Nichtfreisein!
Über viele Jahre waren wir überzeugt, dass Freiheit das Gegenteil von Unterdrückung sei. Als jedoch die Unterdrückung verschwand, erkannten wir mit Bestürzung, dass wir unfähig waren, mit der Freiheit umzugehen. Es ist viel einfacher, die Begriffe als Gegensätze zu definieren, als sie mit eigenständigen Inhalten zu füllen. Die Rumänen sind heute ein Volk, das nach fünfzig Jahren kommunistischer Herrschaft und einem nahtlosen Übergang zur freien Marktwirtschaft mit Erschrecken feststellt, wie wild der Kapitalismus sein kann, ein Kapitalismus, der von der gleichen gesellschaftlichen Minderheit politisch dominiert wird. Das Gefährliche daran ist, dass man dabei das Gefühl hat, Veränderungen seien lediglich eine Strategie, Schlechtes durch noch Schlechteres zu ersetzen. Mit Ausnahme einiger Details gilt das auch für die anderen Völker im Osten.
Ich spreche von den “Völkern im Osten”, da es augenscheinlich immer noch zwei Europas gibt: das westliche, das im Laufe von Jahrhunderten hochmütig ignorierte, was einige hundert Kilometer entfernt von seinen Grenzen passierte, und das andere, das östliche, orientalische Europa, das immer schon davon geträumt hat, näher an den Westen heranzurücken. Diese zwei Teile bleiben sich weiterhin fremd. Sie wissen wenig voneinander. Nach dem europäischen Einigungsprozess lernen sich beide allmählich kennen, was nicht ohne Enttäuschung abgeht, vor allem für jene, die sich von Osten nach Westen bewegen. Deshalb erscheint es mir wichtig, dass der Einigungsprozess nicht nur auf ökonomischer oder diplomatischer Ebene vorangetrieben wird, sondern auch die Obsessionen in Einklang bringt. Osteuropa bringt das Erbe eines gelebten Leidens ein, ein Kulturgut aller großen historischen Konstruktionen.

In den letzten zwanzig Jahren war deswegen meine Hauptbeschäftigung nicht die Literatur, obwohl ich weiter geschrieben habe, sondern die Errichtung der ersten Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands. Das Memorial ist ein großes Museum mit fünfzig Sälen im Gebäude eines ehemaligen stalinistischen Gefängnisses in Sighet, einer kleinen Stadt an der Nordgrenze Rumäniens zur Ukraine.
Der größte Sieg des Kommunismus – ein Sieg, dessen Dramatik man erst nach 1989 erkannte – war es, einen Menschen ohne Gedächtnis zu schffen, einen “neuen Menschen”, einen Menschen, der sich nach vollzogener Gehirnwäsche nicht mehr daran erinnern sollte, was er vor dem Kommunismus war, besaß oder tat. Das Erinnern ist eine Form von Wahrheitsfindung. Die Einrichtung der Gedenkstätte von Sighet war deshalb kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, das kollektive Gedächtnis wiederherzustellen. Wichtigstes Anliegen der Kommunisten war die Ausmerzung des historischen Gedächtnisses. Dieser Demütigung kann nur die Rekonstruktion der Vergangenheit entgegengestellt werden, denn die Geschichte ist das Rückgrat einer Gesellschaft. Das Memorial von Sighet ist sowohl Argument als auch Symbol für die Bedeutung und Notwendigkeit des historischen Gedächtnisses, das unentbehrlich ist für den Aufbau einer Zivilgesellschaft.

Von 1950 bis 1955 waren im Gefängnis von Sighet mehr als 200 Würdenträger, Akademiker, Proletarier – die meisten von ihnen ohne Urteilsspruch – inhaftiert, nur zwei Kilometer entfernt von der sowjetischen Grenze, damit sie im Falle einer Revolte nicht befreit werden konnten. Während der fünf Jahre Haft starben 53 der 200 Gefangenen. Sie wurden Opfer eines langsamen Vernichtungsprogramms. Eine der Fragen, die immer wieder im Zusammenhang mit der Gedenkstätte gestellt wird, lautet: “Warum Sighet? Es gab noch andere Gefängnisse, die viel größer und schrecklicher waren.” Die Antwort ist einfach: “Weil in Sighet alles anfing. Weil Sighet der Ort war, wo man mit Präzision die Prozesse und Etappen der Repression umsetzte. Um das Volk fügsam zu machen, musste zuerst die politische, kulturelle und soziale Elite vernichtet werden. In Sighet hat man prophylaktisch die Spitze der Gesellschaft geköpft. Man ließ einer Zivilgesellschaft keine Chance.”

1993 haben wir dem Europarat den Vorschlag gemacht, dieses Gefängnis in eine internationale Institution des Gedenkens an die kommunistischen Greueltaten umzuwandeln. Der Europarat stellte das Vorhaben unter seine Schirmherrschaft. 1997 erklärte das rumänische Parlament die Gedenkstätte zu einer “Stätte von nationalem Interesse” und gewährte uns eine jährliche finanzielle Unterstützung. Der mühsamste Teil war jedoch die Entwicklung einer wissenschaftlichen Methode, um die Gefängniszellen in Museumsräume umzuwandeln.

Heute gibt es mehr als dreitausend Stunden Tonbandaufzeichnungen.In der Reihe “Dokumente” wurden Tausende von Schriftstücken gesammelt und in der Buchreihe “Die Annalen von Sighet” die Aufzeichnungen von Zeitgenossen veröffentlicht. In Symposien werden in der “Horizontale” 45 Jahre Kommunismus untersucht. Ein letztes Projekt, das noch am Laufen ist, hat sich die “Auflistung der Inhaftierten von 1945 bis 1989” auf statistischer und soziologischer Grundlage zum Ziel gesetzt. Es gibt 93 000 Häftlingsdokumente, die gegenwärtig im Archiv der Gedenkstätte liegen.
Die Besucher können sich heute anhand der Dokumente, der Bilder und der Zeugenberichte eine Vorstellung vom Mechanismus der Missachtung elementarster Menschenrechte machen, vom Hass als Treibstoff der Geschichte. Der Kommunismus ist zwar als System verschwunden, aber nicht als Mentalität und Methode. Die Analyse des Kommunismus scheint mir ein nützlicher Prozess zu sein sowohl für die Vergangenheit als auch für die
Zukunft. Die Mitglieder der terroristischen Organisationen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre wurden in osteuropäischen Camps ausgebildet und benutzten Waffen sowjetischer und tschechischer Herkunft. Das Studium des Kommunismus und seiner Methoden ist also auch ein Instrument, um die aktuellen Weltprobleme zu verstehen.

Mit der Sommerschule hat unser Projekt in den vergangenen Jahren eine Öffnung in die Zukunft vollzogen. Die Gedenkstätte ist ein Ort, wo die Jugendlichen von heute, denen die düsteren Schatten einer gefälschten Vergangenheit nichts mehr anhaben können, erfahren, was sie als Ergebnis der historischen Entwicklung sind und was sie aus eigenem Willen heraus werden können.

In der mehr und mehr globalisierten Welt schreibe ich und werde übersetzt. Meine Inspirationsquellen sind weiterhin das Leiden, das fünfzig Jahre Kommunismus verursacht haben, sowie die schmerzhaften, verwirrenden Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre des Übergangs von einem Regime zum anderen, von einem Europa zum anderen.
Von Ana Blandiana

Aus dem Rumänischen von Katharina Kilzer.

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.06.2009, Nr. 25 / Seite 9