Das “Memorial Sighet” – ein ehemaliges Gefängnis, das zum Museum umgebaut wurde – ist der Ort, wo sich seit neun Jahren Historiker, Wissenschaftler, Dichter, Journalisten, ehemalige politische Gefangene, Lehrer, Schüler sowie einheimische Besucher zu einer Tagung über Themen zur kommunistischen Vergangenheit Rumäniens und Osteuropas treffen. Die diesjährige Tagung stand unter dem Thema „Chronik vom Ende eines Systems“, und unter der Schirmherrschaft der Hanns-Seidel-Stiftung, des Französischen Kulturzentrums, des Polnischen Instituts Bukarest, des Tschechischen Instituts Bukarest und der Stiftung Bürgerakademie Bukarest.
Blick auf die Gedenkstätte in Sighet. Foto: Katharina Kilzer |
Das Symposium war anders als die vorangegangenen. Den mehr als 150 offiziellen Teilnehmern merkte man an, dass mit diesem zehnten und letzten Zusammentreffen in dem kleinen Provinzstädtchen eine Tradition zu Ende ging. Die Organisatoren, Ana Blandiana und Romulus Rusan, hatten angekündigt, dass mit dieser Tagung auch der Ausbau und die Renovierung des Museums abgeschlossen seien und die Themenreihe zur Aufarbeitung des Kommunismus in Rumänien und Osteuropa ihr vorläufiges Ende gefunden habe. Im Mittelpunkt des X. Symposions standen die Jahre der kommunistischen Diktatur Ceausescus von 1973 bis 1989, andere Schwerpunkte waren die Solidarnosc-Bewegung in Polen, die Charta 77 und der Fall der Berliner Mauer.
Ana Blandiana, Vorsitzende der Stiftung „Memorial Sighet“, begrüßte die zahlreichen Gäste und Ehrengäste: den Vertreter des Vatikans in Bukarest, Jean-Claude Perisset , den in den Vereinigten Staaten lebenden russischen Dissidenten Vladimir Bukovski, den Autor des Schwarzbuch des Kommunismus, Stephane Courtois, und dessen Mitautor Nicolas Werth aus Frankreich, Vertreter der Solidarnosc aus Polen, Bürgerrechtler und Historiker aus der Tschechischen Republik, den ehemaligen deutschen Botschafter in Bukarest, Dr. Heinemann, und viele weitere Teilnehmer aus Europa und den USA.
Mehr als 120 Vorträge wurden während der beiden Tage gehalten. In einer lebendigen Schilderung erzählte der Schriftsteller Bukovski seine Kindheit im Kommunismus, seine Wahrnehmung Lenins und Stalins, sein Aufbegehren gegen das Sowjetregime und schließlich über seine Gefängnisjahre. Die rumänische Bürgerrechtlerin Doina Cornea dachte in ihrem Rückblick auf die Jahre 1973 bis 1989 über die Gründe nach, warum sich der Kommunismus in Rumänien so lange gehalten hat, und kam zu dem Schluss, dass auch die Intellektuellen zu wenig Solidarität mit dem Einzelnen gezeigt hätten, der sich gegen das System erhob. Sie rief daher zu mehr Solidarität auf und erinnerte die politisch Aktiven daran, dass „ein lebendiger Staat nicht mit Toten zu machen“ sei. Der rumänische Historiker und Publizist Victor Frunzǎ berichtete über die Odyssee der Veröffentlichung seines Buches über den Kommunismus: Um der Aufmerksamkeit seiner Beobachter zu entgehen, schrieb er die Abhandlung, die zum ersten Mal in Dänemark erschienen ist, auf die Blätter einer Bibel. Auch über die Geheimdienstakte des bekannten rumänischen Dissidenten Paul Goma, die über 350 Blätter umfasst, referierten mehrere Teilnehmer. Ein Thema, das ebenfalls von mehreren Teilnehmern behandelt wurde, war der Bergarbeiterstreik August 1977 im Schiltal sowie der Arbeiteraufstand 1987 in Kronstadt. Ein am Streik beteiligter Bergarbeiter und ein Arbeiter aus Kronstadt schilderten die Vorgänge jener Tage. Im Schiltal wurde der Aufstand nach dem Besuch Ceausescus vor Ort niedergeschlagen. Auch in Kronstadt wurden einige der Demonstranten gefangen genommen und die anderen zum Schweigen gebracht. Obwohl manche dieser Referate so genannte Zeugnisse der Oral History sind und den wissenschaftlichen Standards nicht genügen, tragen sie wesentlich zur Aufklärung der Ereignisse jener Jahre bei.
Ein Vertreter der deutschen Minderheit in Rumänien, Wolfang Rehner aus Sächsisch-Regen, referierte über die Probleme der deutschen Bevölkerung im Rumänien Ceausescus sowie die Auswanderungstendenzen der Deutschen zu jener Zeit. Zwei Historikerinnen aus Bistritz gingen auf die unterschiedliche Sichtweise der deutschen Minderheit Rumäniens gegenüber den beiden deutschen Staaten ein. Der Vertreter der Berliner Bundesstelle für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Helmut Müller-Enbergs, überbrachte eine Grußbotschaft der Leiterin der Behörde, Marianne Birthler, und plädierte für bessere Aufklärungsbedingungen in Rumänien. In seinem kurzen Vortrag beschrieb er die Aufnahme der Beziehungen der damaligen Brandt-Regierung mit der DDR; eine Zeit, in der die DDR ihre Überwachungspolitik verstärkte und auch die Zahl der Informanten wuchs. Ein Vergleich mit der rumänischen Lage jener Zeit steht noch aus, schließlich befinden sich die Geheimdienstakten immer noch im Besitz der Nachfolgeorganisation der Securitate. Der Publizist Hans Bergel, der bereits zum zweiten Mal am Symposion teilnahm, referierte über seine Securitate-Dossiers, die er Anfang des Jahres in Bukarest studiert hatte (Ein Vorabdruck war in der Siebenbürgischen Zeitung Online vom 16. Mai 2002 zu lesen).
Eingang in die Gedenkstätte Sighet – X. Tagung zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Rumäniens und Osteuropas. Foto: Katharina Kilzer |
Auch andere Verfolgte und Betroffene der Securitate-Überwachung schilderten ihre Erlebnisse: so der englische Historiker und Autor mehrerer Bücher über das kommunistische System Rumäniens, Dennis Deletant, der im Sommer 1986 Cornel Coposu in seiner Wohnung in der Strada Mǎraru in Bukarest aufgesucht hatte und anschließend von dem rumänischen Geheimdienst bei der Ausreise aus dem Land bedroht worden war. Coposu, der ein Opfer der kommunistischen Konspiration war, saß 16 Jahre in verschiedenen Gefängnissen (auch in Sighet) und gründete nach der Revolution von 1989 die Bauernpartei wieder. Courtois sprach über das kommunistische Phänomen in den osteuropäischen Ländern.
Ein besonders interessantes Phänomen, den Widerstand gegen den Kommunismus vermittels der Kultur, hinterfragte der bekannte Schauspieler Ion Caramitru vom Bulandra-Theater, jetziger Präsident der Uniter (Union der Nationaltheater Rumäniens). Regisseur Mircea Danieliuc schlussfolgerte: „Es gab leider keine kulturellen Widerstand unter Ceausescu. Ich glaube auch heute nicht an intellektuelle Solidarität, ich glaube an Talk-Shows.“ Wie andere Referenten stellte Daneliuc die rhetorische Frage: „Betreiben wir Widerstand oder überleben wir?“ Resignative Stimmung war unter zahlreichen Vortragenden in Sighet zu spüren: Betroffenheit, Unzufriedenheit mit der jetzigen Regierung, die kulturelle Aktivitäten, die ihren Interessen nicht dienen, durch Entzug der finanziellen Mittel austrocknen lässt. Behinderung der Aufklärung, Korruption und Stillstand lassen viele resignieren. Eine Gruppe rumänischer Intellektueller forderte die Regierung auf, dass all jene, die als Informanten, Spione oder Mitarbeiter der Securitate tätig waren, von ihrem öffentlichen Amt zurücktreten sollten. Die Behörde für das Studium der Securitate-Dossiers, CNSAS, müsse effektive Aufklärungsarbeit leisten; als Voraussetzung für die Aufnahme Rumäniens in die Nato und später in die EU müssten die Dossiers von hochrangigen Politikern veröffentlicht werden. „Wir haben den Kampf mit dem Kommunismus noch nicht gewonnnen“, sagte Bukovski. „Die Nomenklatur hat immer noch Büros und Arbeitsplätze zu verteilen. Die Niederträchtigen („ticălosii“) haben gesiegt.“
Zehn neue Säle wurden kürzlich in der zweiten Etage des einstigen Gefängnisses und heutigen Museums „Memorial Sighet“ eingerichtet und während des Symposiums eingeweiht. Sie sind folgenden Themen gewidmet: „Die Sowjetisierungsbemühungen von 1948“, „Die Studentenbewegung von 1956“, „Die Zwangsumsiedlungen“, „Die Demolierungen der Kirchen in Bukarest“, „Frauen im Gefängnis“, „Bessarabien im Gulag“, „Die Chronik der Bürgerrechtler und Oppositionellen der achtziger und neunziger Jahre“, „Das goldene Zeitalter oder der kommunistische Kitsch“, „Geheimdienst Securitate von 1948-1989, „Ethnische und religiöse Minderheiten“.
Abschließend wurde ein Grußwort von Präsident Ion Iliescu vorgelesen, der das Museum und die Forschungsstätte Sighet als „Symbol des rumänischen Gulag“ für die Nachwelt bezeichnete. Der Präsident der Vereinigung ehemaliger politischer Häftlinge, AFDPR, forderte in seiner Botschaft die Fortsetzung der Aufklärungsarbeit im Memorial Sighet und kündigte an, dass die Mitgliederversammlungen seiner Organisation künftig in den Mauern des ehemaligen Gefängnisses abgehalten werden. Victor Ciorbea, ehemaliger Premierminister und derzeitiger Vorsitzender der Bauernpartei, würdigte in seinem Schlusswort die Aufklärungsarbeit, die in Sighet geleistet werde, und schloss mit einem Zitat von Iuliu Maniu aus dem Jahre 1928, das heute noch immer aktuell sei: „Das künftige Europa wird ein Kontinent der Unionen und Konföderationen sein. Wir Rumänen müssen uns vorbereiten, in die neue Welt als Gleichwertige und nicht als Unterwürfige (neo-iobagi) einzutreten.“
Ebenfalls in Sighet fand die V. Sommerakademie der Schüler und Studenten statt, geleitet von Stephane Courtois und gefördert durch die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Schüler gingen in ihrer Abschlussarbeit der Frage nach: „Wozu dient das Gedenken?“ (La ce foloseste memoria?) Sowohl diese Beiträge als auch die Vorträge der Teilnehmer am X. Symposion werden in der Buchreihe „Analele Sighet“ veröffentlicht.
Katharina Kilzer
http://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/alteartikel/1253-chronik-eines-unangekuendigten.html